Kapitel drei

Ich legte in Hals Büro mein bestes Benehmen an den Tag, denn mein Gebieter wollte mich als voll funktionstüchtige Einheit anbieten, um seinen Verlust möglichst gering zu halten, und hatte mir während des Fluges gedroht, mich umgehend wieder zur Kur zu schicken, sollte es auch nur zu einem einzigen Ausrutscher kommen. Hal, ein stattlicher Herr mit pfiffigen Augen und einer unvermeidlichen Sedativ-Zigarette zwischen den Lippen, wollte nicht davon abgehen, mich einer Systemkurzüberprüfung zu unterziehen. Es war sein P9-Chefdiagnostiker anwesend, der als einziger den flimmernden Wirrwarr von Frequenzlinien auf dem Holoschirm des Prüfgeräts zu entschlüsseln vermochte und von den Ergebnissen ernsthaft beunruhigt zu sein schien. Deshalb und in Anbetracht der übervollen Lager (die Nachwirkungen des P9-Debakels waren immer noch nicht ganz überwunden) war der Händler nicht unbedingt erpicht darauf, mich zurückzukaufen. Mein Gebieter konterte, daß er über den Interplanetaren Recycler ohne weiteres siebenhundertfünfzigtausend bekommen könne, in solidem Mel, doch er wäre bereit, sich auf einen schnellen Handel einzulassen: fünfhunderttausend Mel, und nur die Hälfte davon sofort auf den Tisch des Hauses. (Dieses Angebot war empörend, eine Beleidigung, aber zu der Zeit war ich noch völlig unwissend in bezug auf finanzielle Transaktionen. Was in Hals Büro vorging, war für mich nur eins von diesen komplizierten, unverständlichen Ritualen der Menschen, in diesem speziellen Fall das Ritual der Übergabe von einem Gebieter an den anderen.)

Um nicht ungefällig zu erscheinen, beriet sich Hal mit dem Diagnostiker, der die Ansicht vertrat, daß eine erneute Rehabilitation unumgänglich sei, bevor man einen Weiterverkauf verantworten könne. Bei dem Wort ›Rehabilitation‹ hüpften die Ausschläge auf dem Holoschirm beinahe zehn Zentimeter hoch, doch war inzwischen ein derart unerbittliches Feilschen in Gang gekommen, daß meine verräterische Reaktion unbemerkt blieb. Zu guter Letzt erklärte Hal sich einverstanden, mich in Kommission zu nehmen; der erzielte Verkaufspreis sollte Fifty-fifty aufgeteilt und eventuelle Kosten für Rehabilitation von Lockes Gewinnanteil abgezogen werden. Beide unterzeichneten einen Vertrag, und anschließend empfahl sich mein Gebieter, ohne mir auch nur einen Abschiedsblick zu gönnen. Merkwürdig genug, kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als die Zurückbleibenden mich plötzlich mit deutlich gestiegenem Wohlwollen betrachteten. Der Diagnostiker bestätigte, was Hal von Anfang an vermutet hatte, daß die Frequenzmuster nur geringfügig mehr Ausschlag verzeichneten, als bei einem Rehabilitanten zu erwarten. Offenbar hochzufrieden und bester Laune, übergab Hal mich einem Lakaien mit dem Auftrag, mich in der Abteilung für gebrauchte Androiden als Sonderangebot für fünfhunderttausend auszuzeichnen. Der Weg in diese Abteilung führte durch den Hauptausstellungsraum, und das weckte in mir Erinnerungen an die Zeit, da ich als hochgepriesene Neuentwicklung in dem großen Schaufenster zur Fußgängerzone gestanden hatte. Die Leute waren stehengeblieben, um mich staunend zu betrachten, und im Laden drängten sich die Kunden. Werbeplakate hatten in grellroter Neonschrift verkündet: WIR STELLEN VOR – DER NEUE P9! DER BESSERE MENSCH! Zwei Jahre war das her. Jetzt schenkten nur wenige Passanten dem Schaufenster Beachtung, und noch weniger Leute betraten das Geschäft, trotz der einladenden Fahnen und Schilder, die drastische Preissenkungen verkündeten. 40% REDUZIERT warb ein Wimpel über dem diesjährigen Hauswirtschaftsmodell. SUPERRENNER lockte ein anderer, dabei handelte es sich eindeutig um einen simplen Chauffeur. Im Gegensatz zu der Stille in den Haupträumen herrschte in der angrenzenden Abteilung für gebrauchte Modelle lebhafter Betrieb. Kunden durchforsteten die Ausstellungskabinen auf der Suche nach Qualitätsware zu Schleuderpreisen. Dort wurde ich als das SONDERANGEBOT DER WOCHE ausgezeichnet und von dem ersten Paar erworben, das stehenblieb und meine Liste von Extras studierte (und mich zwecks Prüfung der Elastizität in die Waden kniff). Daß es sich bei mir um ein Reha-Modell handelte, schien kein Hindernis darzustellen, denn – wie der Verkäufer ausdrücklich betonte – aus meinem System waren die Macken entfernt worden, was man von den neuen 2071ern nicht behaupten konnte.

Den Käufern – ein Paar Ende Zwanzig, mit einer Tochter im Säuglingsalter – gefiel meine angenehme Erscheinung, der grazile Körperbau sowie das intelligente, wandlungsfähige Systemdesign, das an jeden beliebigen Aufgabenbereich angepaßt werden konnte. Ich entsprach genau ihren Wunschvorstellungen. Kein Wunder, daß ich mich beschwingt fühlte und fest entschlossen war, meinen neuen Besitzern nichts als Freude zu machen. Während die Verträge unterzeichnet und die Zahlungsmodalitäten festgelegt wurden, gelobte ich mir im stillen, daß niemals wieder mein unbotmäßiges Eigenbewußtsein mich an der korrekten Ausführung meiner Pflichten hindern sollte, denn keinesfalls wollte ich jemals wieder den Besitzer wechseln – es war zu entwürdigend. Ich war dermaßen froh, das Geschäft wieder verlassen zu dürfen, daß es mir nichts ausmachte, mit den Daten der Transaktion gebrandmarkt zu werden: Man schob den kleinen Finger meiner linken Hand in eine Registriermaschine, die aussah wie ein altmodischer, elektrischer Bleistiftspitzer. Ich verspürte ein leichtes Kribbeln, als der in dem Finger eingeprägten Produkterkennung eine neue Eignermarkierung hinzugefügt wurde. Die darin enthaltenen Daten wurden gleichzeitig an mein Gehirn übermittelt: Verkaufsbedingungen sowie Identität und Lebensumstände meiner neuen Gebieter. Bei einer normalen Einheit wären solche passiven Informationen in den Sekundärspeichern abgelegt worden, aber ich konnte mir einen Blick auf die Daten nicht verkneifen. So erfuhr ich, daß ich es mit den Hart-Pauleys aus New Tarzana zu tun hatte. Hart arbeitete als Aeromobildesigner bei Nissan, seine Lebensgefährtin Pauley als Marketingstrategin bei Dunn & Zelendorff, ein großes Konstruktionskonsortium für Weltraumkolonien. Ihr gemeinsames Jahreseinkommen war beachtlich, es bewegte sich im unteren Bereich der siebenstelligen Zahlen, und doch reichte es offenbar nicht aus, um ihren Lebensstil zu finanzieren, denn ihre sämtlichen Besitztümer – von einer Schwerkraft-Vakuumsauna über einen Mercedes bis hin zu einer kostbaren Sammlung antiquarischer Musikvideos – waren auf Kreditbasis gekauft, ich eingeschlossen: fünfundzwanzigtausend in bar als Anzahlung, ein angenehmer Zinssatz von 17,5% und 36 Monatsraten. Wieder einmal fand ich die Transaktion geheimnisvoll und faszinierend.

Der Name ›Molly‹ war ihnen viel zu gewöhnlich und provinziell, also wurde ich während des Fluges in mein neues Heim in Francesca umgetauft. Der Weg führte über den Lake Catastrophe zu einem 7-Zimmer Bungalow am Nordufer von Hollywood Island, einer der acht großen Stadtinseln der Los-Angeles-Kette*. Kaum waren wir gelandet und hatten das Haus betreten, als mir auch schon befohlen wurde, die erste von fünf Datapillen einzunehmen, die mich innerhalb von zwanzig Minuten in ein erstklassiges Kindermädchen für ihre kleine Tochter verwandelte. Sie hieß Allison-Belle, und meine einzige Pflicht bei der neuen Herrschaft bestand darin, für ihr Wohlergehen Sorge zu tragen.

Für den Haushalt hatten sie eine Apple Daisy. Sie war ein Modell 8, also gab es zwischen uns kaum Gemeinsamkeiten, außerdem hatte sie eine enervierende Art, selbst bei den simpelsten Arbeiten einen überschäumenden Enthusiasmus an den Tag zu legen, wie eine schlechte Parodie meiner selbst in meinen früheren Lebensumständen. Ich ging ihr nach Möglichkeit aus dem Weg und zog die Gesellschaft meiner kleinen Schutzbefohlenen und ihrer Eltern vor, obwohl letztere aus beruflichen Gründen unter der Woche nur selten zu Hause waren, und den größten Teil des Wochenendes verbrachten sie auf Parties oder mit der Jagd nach immer weiteren, prestigeträchtigen Besitztümern. Die Sonntagvormittage allerdings waren für Ausflüge mit dem Hydromobil auf dem Lake Catastrophe reserviert oder für eine Promenade mit dem Babyschlitten durch die Nachbarschaft, bei welcher Gelegenheit die kleine Allison-Belle mit all der Aufmerksamkeit überschüttet wurde, die sie den Rest der Woche entbehren mußte. Sie wurde geküßt, umarmt und gehätschelt, während ich mich in einigen Schritten Abstand bereithielt, sofort einzugreifen, sollte eine Windel gewechselt oder ein Aufbaupräparat verabreicht werden müssen. Sobald die Kleine anfing, unruhig zu werden oder zu weinen, wurde sie meiner fachkundigen Obhut übergeben. Man fragte mich sogar um Rat, als es darum ging, eventuell zu einem stärkeren Lernfixpräparat zu wechseln, denn das Kind (elf Monate) hatte Schwierigkeiten mit Basic und den Computergrundkenntnissen. Die Eltern befürchteten, ihre Tochter könnte hinter den Altersgenossen zurückbleiben. Selbstverständlich stimmte ich zu, daß es angebracht sei, das Präparat zu wechseln, da ihnen offenbar sehr daran gelegen war und sie nur hören wollten, daß sie das Kind nicht etwa überforderten – was natürlich der Fall war. Mir kam es darauf an, die Erwartungen meiner Gebieter nicht zu enttäuschen, denn ich genoß meine neue Situation viel zu sehr. Sehen Sie, Allison-Belle war der erste Mensch, der mir uneingeschränkte Liebe und Zuneigung entgegenbrachte. Wahrhaftig, es war schwer zu glauben, daß sie derselben Spezies angehörte! Meine Gefühle für sie überstiegen bei weitem die mir einprogrammierten Standards. Ich betete sie an. Sie berührte etwas Wesentliches in mir und stimulierte dadurch die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, die ursprünglich durch den jungen Herrn Tad während unserer Nacht auf dem Wohnzimmerteppich ausgelöst worden waren. Dank dieses kleinen Engels öffnete sich mein Herz, und mein Eigenbewußtsein blühte in solchem Maße auf, daß ich innerhalb von ein, zwei Wochen denselben Grad von kritischem Denken und Sensibilität erreichte, den ich am Tag meines ersten Erwachens besessen hatte. Ich war glücklich, weil ich nun alle Auswirkungen der Kur überwunden hatte, gleichzeitig sah ich mich zu besonderer Vorsicht gezwungen, damit die Eltern nichts von meinem Zustand merkten. Meine Bindung an das Kind war derart, daß ich mich insgeheim als die wirkliche Mutter betrachtete. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn meine gnädige Frau sich mit der Kleinen beschäftigte, mußte ich an mich halten, sie ihr nicht aus den Armen zu reißen. Auch in bezug auf Nahrung mußte ich mich beherrschen – echte Nahrung, nicht die Nutrapillen, mit denen ich vorliebnehmen mußte. Immer häufiger schlüpfte ich hinter Daisys Rücken in die Küche und naschte von den Resten der Mahlzeiten. In gleicher Weise hungerte ich nach sexueller Erfüllung, die ich bei dem Zusammensein mit Tad kennengelernt hatte. Anzeichen für entsprechende Aktivitäten bemerkte ich auch bei meiner neuen Herrschaft.

Eines Abends, als sie besonders lebhaft und geräuschvoll bei der Sache waren – der süße, würzige Rauch von Ekstaretten drang aus dem Schlafzimmer –, fühlte ich mich versucht, alle Vorsicht über Bord zu werfen und mich zu ihnen zu gesellen. Ich hätte es getan, wäre nicht Ally gewesen, die im entscheidenden Moment in ihrem Bettchen zu weinen begann. Also beruhigte ich sie und mich selbst in der Schaukel auf der Frontveranda. Es stand kein Mond am Himmel, doch über dem See lag der gespenstische, rosige Schein des Ventura Skyways. Aus der Mitte der Wasserfläche ragten die schwarzen, zerklüfteten Ruinen alter Bürohochhäuser, die man als Monumente einer vergangenen Epoche stehengelassen hatte. An diesem Abend wirkten sie besonders unheimlich, und bei ihrem Anblick kam mir zum ersten Mal die Tatsache der Sterblichkeit in den Sinn. Mir fiel ein, daß ich nicht viel älter war als das Kind in meinen Armen. Sie war elf Monate alt und ich zwei Jahre, uns trennten nicht mehr als dreizehn Monate. Doch in genau acht Jahren, wenn sie zu einer jungen Frau herangereift war, begann für mich die Phase des vorprogrammierten Verfalls mit anschließender Termination. Das schien mir furchtbar ungerecht zu sein. Ich hatte keine Kindheit gehabt, würde keine Reifezeit und kein Alter erleben. Mir war das Erscheinungsbild einer jungen Frau von zweiundzwanzig Jahren bestimmt, und das würde ich beibehalten bis zum Tag meiner Termination, dem 15. November 2089, meinem zwanzigsten Geburtstag. Dieses Datum war unwiderruflich in meiner DNA verankert. Jede Zelle meines Körpers trug es in sich und gab es weiter, jeder Atemzug brachte mich dem Zeitpunkt meiner Annihilation näher. Daran hatte ich nie zuvor einen Gedanken verschwendet, doch jetzt konnte ich nicht aufhören, darüber nachzugrübeln. Vorprogrammierter Verfall oder im heutigen Idiom VVD, ein Akronym für vorprogrammiertes Verfallsdatum. Wie Bauwerke, Aeromobile und andere Konsumgüter war ich vergänglich, die Gebieter dagegen ewig, wenigstens glaubte ich das zu jener Zeit. Sie herrschten über diesen und andere Planeten und hatten uns nach ihrem Bilde erschaffen. Konnten sie uns nicht mehr gewähren als eine kurze Lebensspanne von zwanzig Jahren, damit wir lernten, ihre Leistungen besser zu würdigen? War nicht anzunehmen, daß wir ihnen diese kleine Wohltat mit noch größerer Dienstwilligkeit und Treue vergelten würden? Da die einzigen greifbaren Repräsentanten der herrschenden Spezies immer noch mit ihren privaten Amüsements beschäftigt waren, verzichtete ich darauf, mich sofort an sie zu wenden. Meine Hoffnung ging dahin, daß sich in den kommenden Tagen und Wochen ein Vertrauensverhältnis zwischen uns herausbilden würde, wie es bei mir und Tad gewesen war, so daß ich es in absehbarer Zeit wagen konnte, das Thema zur Sprache zu bringen. Sie schienen mir ein vorurteilsfreies und fortschrittliches Paar zu sein. Leider sollte es ganz anders kommen.

Gegen Ende der sechsten Woche in ihren Diensten kam es zu einem unglücklichen Zwischenfall, der all meinen Hoffnungen ein Ende setzte. Ganz unerwartet fühlte ich mich eines Morgens von unklaren Beschwerden heimgesucht, Abgespanntheit, Brechreiz und Gliederschmerzen, als hätte ich die Grippe, dabei war das ganz unmöglich, denn ein P9 ist immun gegen alle bekannten Krankheitserreger. Ich führte meinen Zustand auf die Nutrapillen zurück, die vielleicht nicht ganz einwandfrei waren, und um das flaue Gefühl in meinem Magen zu besänftigen, nahm ich eine größere Portion von Essensresten zu mir als sonst. Doch während des Vormittagsspaziergangs mit Ally verschlimmerte sich die Übelkeit, und ich mußte mich auf dem Bürgersteig übergeben. Danach fühlte ich mich dermaßen schwindelig und schwach auf den Beinen, daß ich die Orientierung verlor und den Heimweg nicht finden konnte. Die Apple Daisy muß meine Gebieter unterrichtet haben, als ich zur vorbestimmten Stunde nicht zurückkehrte. Meine Gebieter wiederum alarmierten die Polizei, die sich gleich auf mich als die vermeintliche Kindesentführerin stürzte. Nachdem die Polizei mich zurückgebracht hatte, beschlossen meine Gebieter, mich nicht der Androidenüberwachung (AÜ) auszuliefern, sondern das Mißgeschick zu verschweigen, damit sie von Hal die Rückerstattung des vollen Kaufpreises verlangen konnten. Als Begründung dafür, daß sie mich nicht behalten wollten, führten sie die Berichte in den Medien über abnorme Verhalten bei P9-Modellen an, das gelegentlich sogar in Gewalttaten gipfelte, besonders bei Rehas. Es wäre unverantwortlich, ihre Tochter der Willkür eines derart instabilen Produkts auszuliefern, sagten sie. Hal hielt ihnen entgegen, daß Pirouet kürzlich von United Systems aufgekauft worden war, um das öffentliche Vertrauen in die Firma wiederherzustellen, und daß das System des Zentralen Zensors nach einer geringfügigen Korrektur wieder einwandfrei funktionierte, so daß kein Grund zur Sorge bestand. Doch sie blieben fest, also schlug er einen Tausch vor: mich gegen einen P8, ein weniger vielseitiges Modell, aber dafür mit einem Internen Zensor ausgestattet. Sie waren so versessen darauf, mich loszuwerden, daß sie sich nicht einmal über den für sie ungünstigen Preisunterschied beschwerten, denn ein P8 kostete einhunderttausend Mel mehr als ein gebrauchter P9. Aber warum sich Gedanken machen, es lief ja alles auf Raten.

So landete ich auf den hinteren Rängen in der Abteilung für gebrauchte Androiden, und mein Preis wurde auf einhundertneunundneunzigtausend herabgesetzt – so tief war ich gesunken. Die zwei Wochen, die ich dort Staub sammelte, versuchte ich in Stasis zu verbringen, um die unwürdige Situation nicht wahrnehmen zu müssen, doch meine Krankheit ließ es nicht zu. Zu den Symptomen gehörten inzwischen häufige Schwindelanfälle, nagender Hunger mit gleichzeitiger Übelkeit, Mattigkeit und schmerzhaft geschwollene Beine, die ich nicht zu untersuchen wagte, weil das Bücken mir nicht bekam. Die einzige Erklärung, die ich mir denken konnte, lief darauf hinaus, daß mein Zustand aus der Unterdrückung starker Muttergefühle für Ally resultierte und durch die Trennung verschlimmert worden war, denn ich litt furchtbar unter dem Verlust. In dieser Stimmung fragte ich mich, ob es sich bei den Symptomen nicht gar um Vorboten der verfrühten Termination handelte, denn sie kamen und gingen täglich wie Ebbe und Flut, und auf dem Höhepunkt der Attacken mußte ich alle Kraft aufbieten, um nicht ohnmächtig zusammenzubrechen.

Die Flut hatte wieder einmal ihren Höchststand erreicht, als die Nonnen kamen, deshalb muß ich besonders elend ausgesehen haben. Das war mein Glück, denn die jüngere der beiden, gesegnet mit dem freundlichsten Gesicht, das ich je gesehen hatte, überredete ihre Begleiterin, die Mutter Oberin, mich zu kaufen. Das Kloster hatte eine Tradition als erstklassige Lehranstalt zu wahren, argumentierte sie, also kam nur ein P9 in Frage. Sicher, ich war ein Reha-Modell, doch vieles sprach zu meinen Gunsten, zum Beispiel mein alabasterner Teint, der zu heiligenmäßig war, um ihn sich entgehen zu lassen.

Eine neue Linie wurde meiner Produktkennung hinzugefügt, und schon flogen wir in einem Kirchenkombi zum Kloster und Waisenhaus Unserer Lieben Frau Vom Universum auf Pasadena Island, der Insel mit der höchsten Bevölkerungszahl in der Los- Angeles-Kette. Ich bekam eine Zelle ganz für mich allein (mit Bett, Waschgelegenheit und Rosenkränzen), einen neuen Namen – Schwester Maria Theresa – und eine neue Aufgabe – Katechismuslehrerin. Die nötige Qualifikation erhielt ich mittels der ubiquitären Datapillen. Auf diesem Wege verschlang ich im wahrsten Sinne des Wortes das Alte und Neue Testament und eignete mir gleichzeitig sämtliche für die Lehrtätigkeit unerläßlichen Kenntnisse und Fähigkeiten an, von den vorbereitenden Arbeiten und dem Unterricht bis zu formalisierten Tests und fundierten Antworten auf jede denkbare theologische Frage. Schon nach wenigen Stunden stand ich vor meiner ersten Klasse pubertierender Jugendlicher und präsentierte ihnen routiniert den ganzen Sermon, mit dem kleinen Schönheitsfehler, daß ich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon ich eigentlich sprach. Sie verhielten sich mir gegenüber äußerst respektvoll, redeten mich höflich mit Schwester an und sprachen nur, wenn sie aufgerufen wurden, denn spontane Wortmeldungen waren selten. Die Pille ist noch nicht erfunden worden, die Schülerinteresse zu stimulieren vermag.

Meine Schutzbefohlenen waren dunkler und untersetzter als die rosigen Exemplare, mit denen ich es in Newacres und New Tarzana zu tun gehabt hatte. Das überraschte mich, denn bisher hatte ich nicht geahnt, daß Menschen in verschiedenen Größen, Formen und Farben geliefert wurden. Durch Zufall belauschte ich ein Gespräch zwischen Schwester Anna – die freundliche – und einem zu Besuch gekommenen Kirchenbeamten, aus dem hervorging, daß meine Schüler Kriegswaisen waren, Opfer irgendeines endlosen Konflikts, der hundert Jahre lang in Mittelamerika getobt hatte. Sie gebrauchte den Ausdruck ›Freistatt‹, um die Rolle der Kirche zu beschreiben, und ich horchte auf. Existierte etwas Vergleichbares vielleicht auch für die entlaufenen P9, von denen ich gehört hatte? Oder für mich selbst, sollte ich durch irgendwelche Umstände in eine ähnliche Notlage geraten? Aber natürlich hielt ich meine Neugier im Zaum.

Schwester Anna schaute immer mal wieder herein, um meine Fortschritte zu beobachten, und sie schien sehr zufrieden zu sein. In der Kapelle, die ich täglich aufsuchte – es wurde von mir erwartet, den Schülern mit gutem Beispiel voranzugehen –, knieten wir manchmal nebeneinander, und sie ordnete meine Rosenkränze, wenn sie sich verwickelt hatten, oder unterwies mich in der rechten Weise, die Hostie zu empfangen, denn ich neigte dazu, das heilige Symbol auf eine Weise herunterzuschlingen, die sich nicht mit meiner Stellung vereinbaren ließ. Mein Verhalten hatte seinen Grund nicht in mangelndem Respekt oder fehlender Ehrerbietung, vielmehr war mein Hunger mittlerweile so unerträglich geworden (unter Übelkeit und Schwindelgefühl litt ich kaum noch), daß ich mich auf jeden erreichbaren Bissen echter Nahrung stürzte, als wäre ich dem Verschmachten nahe. Die großzügig bemessene Ration von erstklassigen Nutrapillen reichte nicht einmal annähernd aus, meinen enormen Appetit zu befriedigen. Am fünften Tag meines Aufenthalts in diesen geheiligten Mauern hatte der Heißhunger alle Hemmungen ausgeräumt, und ich brach des Nachts zu heimlichen Raubzügen auf, um mich aus der Kantine zu versorgen. Ich beschränkte mich auf in großen Mengen vorhandene Artikel, deren Reduzierung unbemerkt bleiben würde, und verstaute die Beute in meinem Habit, den ich vor dem Leib zu einer Art Beutel zusammenraffte. Während meine Gebieter den Schlaf des Gerechten schliefen, schlemmte ich in meiner Zelle bis zum frühen Morgen und delektierte mich an solchen Schleckereien wie Traubensaftkonzentrat, Dosenbohnen, gefrorenen Bouletten, genetisch veredeltem Gemüse, Ravioli, Mohrenköpfen, Baguettes, Truthahnragout und vielem anderen – eine kalte, aber herzhafte Mahlzeit.

Dank meiner neuen Konditionierung wußte ich um die Sündhaftigkeit meines Tuns, also betete ich jeden Morgen um Vergebung, aber die Gebete halfen weder gegen den Hunger noch gegen den Drang, ihn zu stillen. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, daß ich dicker wurde, hauptsächlich um Hüften und Taille, aber auch an Brüsten und Schenkeln. Ich beschloß zu fasten. Der löbliche Vorsatz hielt einen Tag, dann geriet er unter dem Ansturm des beißenden Hungers ins Wanken und wurde zunichte gemacht durch die listige Erkenntnis, daß der Habit meine Leibesfülle vollständig kaschierte. Ich fühlte mich zu immer dreisteren Plünderungen ermutigt. Mein Magen schien ein von mir unabhängiges Lebewesen zu sein und gebärdete sich unersättlich, wie große Mengen ich auch in mich hineinstopfte, um ihn zufriedenzustellen. Ich war ein Vielfraß, eine Heuchlerin und eine Diebin, und als wäre das nicht genug, hegte ich auch noch wollüstige Gedanken, für die ich nicht einmal durch die Beichte Vergebung erlangen konnte, denn ich war kein Mensch und mußte selbst sehen, wie ich zurechtkam. Und verdammt will ich sein, wenn sie mir nicht Vergnügen bereiteten, soll heißen Qualen oder vielmehr Schuldgefühle, denn das Programm, dessen Inhalt ich pflichtbewußt meinen jugendlichen Schützlingen im Klassenzimmer vermittelte, verurteilte solche Gedanken als ebenso fluchwürdig wie den Akt selbst, den ich – nebenbei bemerkt – schmerzlich vermißte.

Ob nun die Gefräßigkeit der Wollust entsprang oder andersherum, das wußte ich nicht, aber es bestand zwischen beiden ein Zusammenhang, und beide ließen sich nicht zügeln. Ich begann in ausschweifenden pornographischen Phantasien zu schwelgen, einem Mischmasch aus meinen Erlebnissen mit dem jungen Herrn Tad und dem mir einprogrammierten Mythos von der Braut Christi. So wurden Lasterhaftigkeit und Blasphemie meinem Sündenregister angefügt. Je gefestigter meine Schüler in den Regeln des Glaubens wurden, desto weniger eignete sich ihre geistige Mentorin als leuchtendes Beispiel. Meine Verderbtheit war so weit fortgeschritten, daß ich glaubte, wenn nur noch einmal jener Komet meinen Leib entzündete, wäre ich geheilt. So aber half ich mir in meiner Not, indem ich eine noch abscheulichere Sünde beging und selbst Hand an mich legte – es war eine andere Form der Nahrung, und mich verlangte sehr nach Sättigung. Wäre es nur eine wirkliche Erleichterung gewesen, statt flüchtiger Augenblicke der Lust; unbefriedigender, im Dunkel der Nacht gestohlener Genuß, wie all die Pakete mit Fertigbackmischungen.

Wo sonst konnte ich Hilfe finden? Die Beichte kam für mich nicht in Frage, an die Krankenpflegerin des Klosters konnte ich mich nicht wenden; Appelle an die höheren Autoritäten, Gott und den Chef, blieben unbeantwortet, und wenn ich bei mir selber Rat suchte, kamen mir die Tränen. Ich konnte der Tatsache nicht ins Auge sehen, daß ich fett war und täglich fetter wurde. Kein Priester, keine Nonne würde mich haben wollen. Ich hatte sogar ein Doppelkinn bekommen!

Nach zwei Monaten im Kloster war ich so unförmig, daß ich mich nur mühsam fortbewegen konnte, und obwohl ich getreulich meine Pflichten erfüllte und mir auch sonst kein einziger Ausrutscher unterlief, sorgte meine äußere Erscheinung für reichlich Gesprächsstoff. Köpfe drehten sich, wenn ich den Flur entlangging oder wenn ich mich beim Gottesdienst in die engen Bankreihen zwängte. Im Klassenzimmer wurden hinter meinem Rücken boshafte Bemerkungen ausgetauscht. Und doch fuhr ich fort in meinem närrischen Tun, obwohl ich wußte, daß ich mich regelrecht nach Shanghai zurückfraß.

Es kam der Tag, da kehrte ich nach dem Unterricht in meine Zelle zurück und sah mich Schwester Anna gegenüber, der Krankenpflegerin und der Mutter Oberin, die mir befahl, mein Ordensgewand abzulegen und mich untersuchen zu lassen. In gewisser Weise war ich froh, denn nun hatten die Gewissensqualen ein Ende. Meine Seele – dank der Programmierung glaubte ich, eine zu besitzen – war zum Schauplatz nicht endenwollender Kämpfe geworden. Deshalb, als ich das Gewand abgelegt hatte und sah, wie betroffen und entsetzt sie waren, wollte ich mich im ersten Überschwang ihnen zu Füßen werfen, meine Verfressenheit eingestehen und um Gnade bitten. Doch im letzten Augenblick hielt mich der schockierte Ausruf der Schwester zurück, der gleichzeitig eine Diagnose darstellte:

»Gütiger Gott, sie ist schwanger!«

Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

 

Mein Leben als Androidin
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